Cemile Sahin bewegt sich mit ihrer künstlerischen Praxis zwischen Film, Fotografie, Installation und Literatur. Thematisch beschäftigt sich die Künstlerin und Autorin mit weniger beachteten Geschichten über Kriege, Militarisierung, Überwachung und Kontrolle. Oft verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart sowie verschiedene gesellschaftspolitische Ereignisse in ihren Werken. Den multimedialen Arbeiten von Sahin liegt dabei eine konzeptuelle Arbeitsweise zugrunde. Indem sie Bild- und Textmaterial aus verschiedenen Quellen kombiniert, darunter literarische Zitate, Internetvideos oder 3D-Animationen, verkörpern ihre Arbeiten die Gleichzeitigkeit von bild- und textbasierter Kommunikation. In der wissentlichen Nutzung dieser Prozesse finden ihre Arbeiten einen schwindelerregenden Rhythmus: Sie reißen mit, hin zu unerwarteten und manchmal unbequemen Erkenntnissen über Geschichtsschreibung und Kriegsführung.
Für den Nassauischen Kunstverein Wiesbaden entwickelt Cemile Sahin eine Rauminstallation mit dem Titel Gewehr im Schrank – Rifle in the closet, in der sie sich thematisch mit der historischen Entwicklung der Militarisierung westlicher Gesellschaften auseinandersetzt. Der Titel bezieht sich auf den Standard männlicher Eidgenossen, nach der Militärausbildung die Dienstwaffe mit nach Hause zu nehmen und im Schrank für den Ernstfall zu lagern. In der Folge ist die Schweiz das Land mit der höchsten Dichte an privaten gelagerten Waffen in Europa. Die Installation besteht aus einer Videoarbeit kombiniert mit Boden- und Wandcollagen und verwebt dabei unterschiedliche historische, politische, technische sowie digitale Aspekte der Militarisierung. Ausgangspunkt ihrer Recherche bilden zwei vor hundert Jahren abgeschlossene Verträge zur Neuordnung der Territorien des Osmanischen Reiches nach dem 1. Weltkrieg: der Vertrag von Sèvres (1920) und der Vertrag von Lausanne (1923), in denen unter anderem die aktuellen Landesgrenzen der modernen Türkischen Republik festgelegt wurden. Hundert Jahre nach Vertragsunterzeichnung sind die Folgen dieser willkürlichen Grenzziehung in der Region bis heute zu spüren. Mit Lausanne als Verhandlungsort historischer Waffenstillstandsvereinbarungen und Friedensverträge fokussiert Sahin den Hauptort des Kanton Waadt (Canton de Vaud) als heute wichtigsten Standort der Produktion von Kampfdrohnen.
Cemile Sahin (*1990, Wiesbaden) studierte Bildende Kunst am Central Saint Martins College of Art and Design in London und an der Universität der Künste in Berlin. Erstmalig wird ein Projekt von ihr im RheinMain Gebiet gezeigt, sie war bereits in zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, so unter anderem auf der Lyon Biennale, in der Bundeskunsthalle Bonn und in der Kunsthalle Osnabrück (alle 2022), in der Akademie der Künste Berlin (2021), dem Kunstverein Hamburg (2020), der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig und dem NS Dokumentationszentrum München (beide 2019). Sie veröffentlichte die Romane TAXI (2019, Korbinian Verlag) sowie ALLE HUNDE STERBEN (2020, Aufbau Verlag). Sie war Stipendiatin der Jungen Akademie der Künste in Berlin (2019), ist arsviva-Preisträgerin für Bildende Kunst (2020) und Preisträgerin der Alfred Döblin-Medaille (2020). Cemile Sahin wird von Esther Schipper Berlin/ Paris/ Seoul vertreten.