Der Stream ist heute die dominante Form, die sich vor alle anderen Erscheinungen der Kultur geschoben hat: das Senden und Empfangen von Bewegtbildern, das nicht mehr ans lineare Fernsehen gekoppelt ist, sondern jederzeit überall stattfinden kann, von der Netflix-Serie bis zur persönlichen Instagram-Story. Die Pandemie hat diese Entwicklung nur verstärkt. Während der Lockdowns sind weite Teile des öffentlichen Raums durch Videostreams ersetzt.
Dass wir jederzeit in die fiktionalen Welten von Fernsehserien eintauchen können, verdanken wir einem immensen logistischen Aufwand: angefangen von den Serverfarmen, durch die die gewaltigen Datenmengen für das Streaming fließen, über die Schauspielerinnen und Schauspielern, die vor der Kamera agieren, die Visagistinnen, die sie schminken, die Modisten, die sie einkleiden, die Regisseurinnen, die Kommandos rufen, die Kameraleute, die diese Kommandos interpretieren, die Tontechniker, die mit an langen Stäben hängenden Mikrofonen den Schauspielerinnen folgen: Ein ganzes Sonnensystem verschiedenster Berufe und Geräte umschwirrt die Handlung vor der Kamera und überträgt sie auf unsere Bildschirme. Am Rand stehen die Schauspieler, die gerade nicht dran sind; und die Geräte, die ebenfalls pausieren. Unter ihnen fand sich während des Drehs einer Serien-Produktion in Budapest und anderen Städten die Künstlerin Britta Thie als Schauspielerin wieder. Während sie auf ihren Einsatz wartete, schweifte ihr Blick über Kamerawägen, Scheinwerfer und Audioports.
Sieht man diese Geräte vom äußeren Rand des Maschinenparks ohne die Techniker, die sie üblicherweise bedienen (das sogenannte Grip Department), gewinnen sie plötzlich Persönlichkeit. Dem spontanen Wechsel des Blickwinkels folgend hat Thie diese unbelebten Akteure in Fotos festgehalten. Und als die Corona-Pandemie auch weite Teile der Filmindustrie in den Stillstand zwang, darunter die Produktion, in der Thie mitspielt, entschloss sie sich, die Fotos in großformatige Gemälde zu übersetzen. Nobilitiert durch das Format des Porträts und den absurden Aufwand des physischen Malvorgangs, starren die Maschinen von den Wänden wie stolze Mitglieder einer Ahnengalerie. Britta Thie holt eins der jüngsten und schnellsten Medien, das digitale Fernsehen, in eins der ältesten und langsamsten: die Malerei.
Es ist das erste Mal seit ihrem Studium, dass Britta Thie, die vor allem mit Videoarbeiten bekannt wurde, als Malerin vorstellig wird. So wie Bruce Nauman die räumlichen Beschränkungen seines Körpers und seines Ateliers in Bezug zum damals jungen Medium Video setzte, oder Richard Serra die Schwerkraft von Blei, so erkundet Britta Thie die entfesselten Möglichkeiten digitaler Medien und fragt nach dem Platz des ältesten Mediums in ihnen: der Sinn- und Empfindungsmaschine Mensch. Jetzt, wo weite Teile der Menschheit auf ihr Zuhause zurückgeworfen sind und die Produkte einer Industrie streamen, die sich ihrerseits im Lockdown befindet, schafft Thie im Rückgriff auf die Malerei Bilder des Stillstands: Vom anderen Ende der großen Mobilisierung der Bilder her blicken uns einmal nicht die nur scheinbar schwerelosen Streams selbst an, sondern die austauschbare Hardware, die dazu dient, sie herzustellen.
(Aus: Kolja Reichert: Grip, 2021)
Über die Künstlerin /
Britta Thie (*1985, Minden) lebt und arbeitet in Berlin. 2013 schloss sie als Meisterschülerin von Hito Steyerl an der Universität der Künste in Berlin ihr Studium ab. Ihre Arbeiten wurden weltweit ausgestellt, u. a. in den Anthology Film Archives (New York), im Mumok (Wien) oder der Julia Stoschek Collection (Berlin).
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