Der Nassauische Kunstverein wird 150 Jahre alt - und lässt sich feiern: von den 167 Kunstvereinen in Deutschland, die im ADKV (Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine) zusammengeschlossen sind: Aus Anlass des Jubiläums tagt der ADKV in Wiesbaden und veranstaltet am 27. und 28 Juni ein Symposium zum Thema E-Kunst versus U-Kunst.

Außerdem wollte es der NKV jetzt genau wissen und fragte die 167 deutschen Kunstvereine: Welcher Künstler ist wirklich "Am Nerv der Zeit"? Das Ergebnis wird vom 1. Juni bis zum 13. Juli 1997 im Kunstverein in Wiesbaden präsentiert: Von den etwa 50 Rückmeldungen wählten Andreas Bee (Museum für Modeme Kunst, Frankfurt am Main), Hans Rudolf Schneebell (Das Kunst Bulletin, Zürich) und NTV-Vorstandsmitglied Felicitas Reusch folgende Künstlerinnen und Künstler aus: Klaus Gaida (Kunstverein Arnsberg), Christina Kubisch (Stadtgalerie Saarbrücken), Jochen Lempert (Bonner Kunstverein), Christopher Muller (Kunstverein Freiburg), Alexander Roob (Overbeck Gesellschaft, Lübeck), Christoph Rütimann (Westfälischer Kunstverein, Münster) und Vadim Zakharov (Kölnischer Kunstverein) sowie als Wahl der Jury Stephan Melzl. Die Künstlerin Gunda Förster gestaltet außerdem einen zentralen Informationsraum, der als zentrale Anlaufstelle dient: Hier findet man alle Kataloge und Künstlervideos der AdKV-Mitglieder. die den NKV erreichten. Gunda Förster (geboren 1967 in Ostberlin) wurde 1996 mit dem Deutschen Kunstpreis der Volks- und Raiffeisen-Banken ausgezeichnet. Sie thematisiert Aspekte, in denen Kunst unmittelbar in den öffentlichen Bereich eingreift und mit Farbe, Licht, Raum, Bewegung und Zeit neue Bewusstseinsinhalte schafft.

Mit Klaus Gaida (geboren 1950 in Barnitz. Niedersachsen) stellt der Kunstverein Arnsberg einen Maler vor, der zu "seltenen Themen" neigt. Als Herausgeber wissenschaftlich gut fundierter Bücher über Fledermäuse, Erdrandbewohner,
Computerzeichnungen und Seidenstickereien sowie mit seinem neuen Projekt "Zeitvertreib" nähert er sich als Maler grenzüberschreitenden Themen. In seinen oft großformatigen Tafelbildern reflektiert Gaida Ereignisse und geschichtliche Zustände. die unter neuen Gesichtspunkten in unser Bewusstsein gerückt werden. In der Serie der "Erdrandbewohner" wendet sich Gaida kaum beachteten historischen Randgruppen zu und simuliert die Rückkehr zu bildlichen Aufzeichnungstechniken vor der Erfindung der Fotografie.

Christina Kubisch (geboren 1948 in Bremen) wurde von der Stadtgalerie Saarbrücken vorgeschlagen. Die Musikerin und Künstlerin begreift nicht nur Farbe, sondern auch Klang als etwas Materielles: Eine Komposition aus 16 sich stetig verändernden Tönen findet im NKV ihre bildhafte Entsprechung in 16 kleinen
schwarzen Lautsprechern in Blütenform. Sie ergeben eine leise, aber sehr dichte musikalische Struktur aus hohen, an der Wahrnehmungsgrenze liegenden Klängen. Kubischs Installation bewegt sich in einem Grenzbereich zwischen Natur und Technik, Erinnerung und Realität.

Jochen Lempert (geboren 1958 in Moers) vom Bonner Kunstverein vorgeschlagen, ist ursprünglich Biologe. Er thematisiert das Verhältnis von Mensch und Tier, den Umgang mit der Kreatur und die Begegnung mit dem Unbekannten und Fremden: In scheinbar konventionellen Schwarzweißfotos knüpft er dokumentarisch-exakt an die Präsentationsformen naturkundlicher Museen an. Seine Dokumente beinhalten in ihrer lapidaren Erscheinungsform ein Potential für Erregung und Verwirrung im Angesicht der Ohnmacht vor dem Lebendigen und Toten einer dem Menschen letztendlich fremden Daseinsform.

Stephan Melzl (geboren 1959 in Basel), ist die Ausnahme. die die Regel bestätigt. Er wurde nicht von einem Kunstverein, sondern von der Jury selbst vorgeschlagen. Er lebt seit vielen Jahren In Frankfurt am Main. Mit den kleinformatigen Malereien, die aus Dutzenden von Zeichnungen entstehen, pendelt er zwischen realistischen Erfahrungen und der Welt des Phantastischen und Irrealen, zwischen Eros. Lust und Tod.

Christopher Muller (geboren 1966 in Stade), vorgeschlagen vom Freiburger Kunstverein, arbeitet vor allen Dingen mit fotografischen Arrangements. Zu seinem Inventar gehören Alltagsgegenstände, ein Klappstuhl, eine Stehlampe, ein Mülleimer, ein Trichter oder ein Blumentopf. Das Unscheinbar-Alltägliche inszeniert der Künstler In einem "unscheinbaren Raum" und befragt jedes Ding auf seine Nachbarschaft, aktiviert es aber erst dann, wenn es in einen entsprechenden situativen Kontext eintritt.

Der Alltagswirklichkeit rückt Alexander Roob (geboren 1956 in Laumersheim/Pfalz), vorgeschlagen von der Overbeck-Gesellschaft in Lübeck, mit dem Zeichenstift zuleibe und fasst sie in Tausenden von Blättern als "Bildromane". Bisher sind nahezu 70 Bände mit über 10.000 Zeichnungen entstanden, ein Bildreservoir, das wie ein riesiger Zettelkasten anmutet. Ob es sich um Bildgeschichten aus der Arbeitswelt, Studien in pharmakologischen Laboratorien von Bayer/Wuppertal, handelt, ob im saarländischen Steinkohlebergbau die moderne Abbautechnik von Kohle dargestellt wird, oder der Künstler, wie im über fünf Meter langen Fries in der NKV-Ausstellung, im Institut für Schwerionenforschung in Darmstadt zeichnet: Immer schafft Roob mit seiner ebenso unverwechselbaren wie kühlen Bildsprache ein weit verzweigtes Gesamtbild unserer Sitten und - Gesellschaft.

Christoph Rütimann (geboren 1955 in Zürich) wurde vom Westfälischen Kunstverein in Münster vorgeschlagen. Der Künstler arbeitet mit unterschiedlichen Medien, beschäftigt sich mit Zeichnung, Malerei, Skulptur, Fotografie, Video und Performance und befragt sie auf ihre traditionelle Rolle, Ihre konventionelle Bedeutung und ihren überlieferten Einsatz. Rütimann zeigt im Nassauischen Kunstverein ein Video: Mit einer weißen Fahne, die die Aufschrift "11 contrabbandiere" (der Schmuggler) trägt, überschreitet er das Grenzgebiet Italien/Schweiz von Tirano nach
Poschiavo und spürt so humorvoll und hintersinnig der Bedeutung des Grenzgängers nach, wird zum Grenzgänger in doppeltem Sinn: seine Grenzüberschreitung bedeutet ebenso Überwindung wie Aneignung des Fremden und wird zum Plädoyer für ein vom Fremdenhass befreites Europa.

Vadim Zakharov (geboren 1959 in Duschanbe, UdSSR) kam 1989 in den Westen und hat sich in Köln niedergelassen. Er wurde vom Kölnischen Kunstverein vorgeschlagen. Vadim Zahkarov verbindet in selten gesehener Harmonie alle bekannten künstlerischen Ausdrucksformen wie Text, Zeichnung, Malerei, Skulptur, Installation, Video und Computergraphik zu einem künstlerischen Modellversuch. Im NKV zeigt er eine Installation der "Toten Seelen" von Nikolai Gogol in Verbindung mit der Reproduktion eines lange verschollen geglaubten Bildes von IIja Repin als Hommage an die russischen Emigranten in Wiesbaden.

Am Nerv der Zeit

01. Juni 1997 - 13. Juli 1997

 

Immer "Am Nerv der Zelt": Der NKV wird 150

Klaus Gaida / Christina Kubisch / Jochen Lempert / Stephan Melzl / Christopher Muller / Alexander Roob / Christoph Rütimann / Vadim Zakharov

kuratiert von Felicitas Reusch