„Und ich auch, ich bin Maler oder Warum ich kein Maler bin“ – Wie Natalie Czech die beiden Titel von Guillaume Apollinaire und Frank O’Hara zu einer widersprüchlichen Aussage verknüpft, so fügt sie auch Poesie und Kunst in gegenseitiger Wechselwirkung zusammen und lotet die Durchlässigkeit der Grenze zwischen den Gattungen aus. Verborgenes mit bildnerischen Mitteln sichtbar zu machen, ist genauso Bestandteil ihrer Arbeit wie die Reflexion über das Verhältnis von Text und Bild. Erstmals wird ihr Werk umfassend mit Arbeiten aus den Jahren 2009 bis 2012 im Rhein-Main-Gebiet vorgestellt.

HIDDEN POEMS greift auf Magazine, Tageszeitungen und Bildbände als Materialgrundlage zurück. Neben bereits bestehenden werden auch zwei neue Versionen gezeigt. Mit Leuchtstiften markiert die Künstlerin in Artikeln einzelne Wörter und Silben, die zusammenhängend gelesen ein Gedicht bilden. Alle Gedichte, die Czech auf diese Weise aufspürt, sind real existierende aus der Feder von Schriftstellern und Lyrikern, wie etwa Robert Creeley, Robert Lax oder E.E. Cummings. Einmal enttarnt, treten sie zu den sie umgebenden Abbildungen und Texten in einen Dialog. Mit A SMALL BOUQUET BY FRANK O’HARA vollzieht Czech eine methodische Kehrtwende. Am Anfang steht ein Bildgedicht, um das verschiedene Autoren einen Fließtext konstruieren, und zwar Wort für Wort, Buchstabe um Buchstabe, bis es sich darin aufzulösen scheint. Am Ende visualisiert erst wieder Czechs Einsatz von Farbe O’Haras Blumengedicht, das, formvollendet und schön, über die Mühsal der Textproduktion triumphiert. Auch bei IL PLEUT BY GUILLAUME APOLLINAIRE greift die Künstlerin auf dieses Prinzip zurück und lässt Autoren verschiedener Sprachen das Kalligrammgedicht „Il pleut“ des französischen Dichters Guillaume Apollinaire in einen eigenen Text einbetten. Die Ausstellung in Wiesbaden gibt einen Ausblick auf diesen jüngsten, in Entstehung befindlichen Zyklus. Mit Gedichten von O’Hara und Apollinaire als Bestandteile für die eigene Kunstproduktion schafft Czech zudem eine Verbindung zu zwei Lyrikern, die zeit ihres Lebens in beiden Welten, der Literatur und der Bildenden Kunst, tätig waren.

TODAY I WROTE NOTHING / DANIIL KHARMS (2009) besteht aus 22 fotografischen Tableaus und bezieht sich auf einen Tagebucheintrag des russischen Avantgarde-Schriftstellers Daniil Charms (1905–1942), der in der frühen sowjetischen Literaturszene als Dichter und Performancekünstler Bekanntheit erlangte, 1932 jedoch als „antisowjetischer“ Schriftsteller verbannt wurde und 1942, zwangsinhaftiert in einer psychiatrischen Anstalt, verstarb. 1937 schrieb Charms in sein Notizbuch: "Today I wrote nothing. / Doesn’t matter. / January 9th." Aus dem scheinbaren Nichts des russischen Dichters entfaltet Czech eine Serie lyrischer Möglichkeiten. Jedes Tableau zeigt eine bedruckte Buchseite, die mit Charms Tagebucheintrag beschriftet ist, wobei einige Worte fehlen und sich damit Aussage und Sinnzusammenhang immer wieder neu definieren. Darüber hinaus zeigt die Künstlerin ihre 2010 entstandene Arbeit ADIEU IHR SCHÖNEN WORTE. Der Titel zitiert einen Vers aus einem nachgelassenen Gedicht der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, in dem sie ihre Schreibblockade thematisiert, jedoch auf so poetische Weise, dass jene zugleich konterkariert wird. Bachmanns Verzweiflung in der Schaffenskrise setzt Czech ein Monument in Form eines überdimensionierten Blatt Papiers entgegen, das aus allen Romanen, Gedichten und Schriften der Autorin geschöpft wurde. Einzelne Silben sind darauf noch lesbar, und auf dem Boden davor liegt eine scheinbar aus einem Notizbuch herausgerissene Seite, auf der in Bachmanns Handschrift „Adieu, Ihr schönen Worte, mit Euren Verheißungen. Warum habt Ihr mich verlassen, war Euch nicht wohl?“ zu lesen ist.

Natalie Czech weckt Neugier auf den Blick in die Tiefe: von der bildlichen Oberfläche verführt sie zum Abtauchen in die Texte, Themen und Phantasien der Autoren. Poesie liegt im Alltag verborgen und im Alltag findet sich umgekehrt die Poesie. Mit der Erweiterung der modernen Sehgewohnheit vom Bild zum Text knüpft sie an die vergangenen Avantgarde-Tradition an, in der Kunstkritik zur Literatur und Literatur zu Kunstkritik wurde, und schließt den Kreis.


Mit freundlicher Unterstützung durch

 

A hidden poem by Rolf Dieter Brinkmann, 2010.
Adieu ihr schönen Worte, 2010.
A Small Bouquet by Frank O'Hara, 2011.
Three hidden poems by Velimir Khlebnikov, 2011.
A hidden poem by E.E. Cummings, 2010.
A hidden poem by Frank O'Hara, 2012.
A hidden poem by Robert Lax, 2010.
A hidden poem by Robert Creeley, 2010.
Il pleut by Guillaume Apollinaire, 2012.
Il pleut by Guillaume Apollinaire, 2012.

Natalie Czech / Et moi aussi je suis peintre oder Why I am not a painter

15. Januar 2012 - 04. März 2012

 

Eröffnung: Samstag, 14. Januar 2012, 17 bis 20 Uhr

Kuratiert von Elke Gruhn, Sara Stehr